Geschwisterstreit: So viel Liebe, so viel Hass
Geschwister streiten. Das ist eine Aussage, die jedes Elternteil unterschreiben würde. Dabei ist vor allem bei Geschwisterkindern Streit vorprogrammiert. Abhängig von der Altersdifferenz und der aktuellen Entwicklungsphase der Kinder kann es in Sachen Geschwisterrivalität ganz schön hektisch zugehen. Streit unter Geschwistern ist ganz normal. Die Kinder testen ihre Grenzen und lernen so viel über sich und die anderen. Was aber, wenn der Geschwister Streit den gesamten Alltag der Familie bestimmt? Wie viel Streit unter Kinder ist normal und wann ist es an der Zeit, einzugreifen?
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Verbündete und Rivalen
Ob es in der Pubertät zu Streit unter Geschwistern kommt oder ob die Kinder noch im Vorschulalter stecken, oft verlaufen die Streitigkeiten nach einem ähnlichen Schema. In der einen Minute spielen die Kinder friedlich miteinander und kurz darauf eskaliert die Situation scheinbar grundlos.
Dieses sehr spezielle Verhältnis beruht auf der einzigartigen Beziehung, die Geschwister miteinander teilen. Denn innerhalb einer Familie sind die Teilnehmer nicht frei gewählt, man bekommt sie sozusagen vor die Nase gesetzt. An keiner Stelle fragt man sich, ob es einen Grund dafür gibt, dass man mit dem Geschwisterkind seine Zeit verbringt – man weiß einfach, sie sind immer für einen da. Dies ermutigt die Kinder auch, zu jedem Zeitpunkt absolut authentisch zu sein. Es ist nicht notwendig, sich hinter Fassaden oder Regeln zu verstecken. Alle Emotionen können ungehindert und ungefiltert ausgelebt werden. Dies resultiert zum einen in lauten Streitigkeiten und zum anderen in einer unzertrennbaren Verbundenheit.
Dieses Auf und Ab ist ein guter Indikator dafür, dass die Beziehung zwischen den Kindern gut funktioniert. Sie helfen sich gegenseitig, ihre eigene Stimme zu finden. Die Art der Rivalität kann sich von Haushalt zu Haushalt stark unterscheiden. Wo die einen sich immer wieder darüber streiten, wer das Zimmer aufräumt, kann es bei anderen zu Streitigkeiten um jede Kleinigkeit kommen. Die Auslöser sind für Eltern dabei nicht immer nachvollziehbar.
Eifersucht und Neid
Ein Streit mit der Schwester oder dem Bruder wird oft durch das anhaltende Vergleichen mit dem Geschwisterkind hervorgerufen. Alle Kinder haben die gleiche Stellung im Haushalt, dennoch kommt das Gefühl auf, dass die andere Person mehr oder etwas Besseres bekommen könnte. Nicht selten geht es schlichtweg darum, wer etwas zuerst bekommt.
Beruht ein Streit zwischen Geschwistern auf Eifersucht oder Neid, ist das also generell nicht ungewöhnlich. Problematisch wird dieser Bereich, wenn ein Kind sich in seinen persönlichen Leistungen oder Verhaltensweisen mit den Geschwistern vergleicht: “Mein Bruder ist schlauer als ich.”, “Meine Schwester hat mehr Freunde als ich.”
Diese Denkmuster können nicht nur zu schweren Streits führen, sondern auch das betroffene Kind nachhaltig mental schwer belasten.
Besitzansprüche und Territorium
Die ersten Streitereien unter Geschwistern drehen sich fast immer um ein Spielzeug oder einen anderen Gegenstand, den eines der Kinder für sich beanspruchen möchte. Im Laufe der Jahre bleibt der Streitpunkt gleich, nur die Gegenstände ändern sich. Wo es sich früher noch um Puppen, Rennautos und Co. gedreht hat, kommt es dann zum Kampf um das Tablett.
Kinder möchten sicherstellen, dass sie hier nicht zu kurz kommen. Sie haben den natürlichen Wunsch, etwas ihr Eigen nennen zu können bzw. etwas dann zu nutzen, wenn sie Interesse daran haben. Oft wird das Interesse an einem Spielzeug spontan erweckt, wenn es sich in den Händen der anderen Geschwister befindet – und schon wird darüber diskutiert, wem es denn nun gehört und wer es zuerst gesehen hat.
Sobald Kleinkinder das Ich-Gefühl entwickeln, bricht die erste Streitphase los. Die ganz Kleinen sind nun in der Lage, etwas für sich zu beanspruchen, ohne mögliche Konsequenzen zu verstehen. Teilen, gemeinsam spielen oder gar Dinge abgeben, das muss erst noch erlernt werden. Ein älteres Geschwisterkind hat diese Fähigkeiten vielleicht schon erlernt, ist aber noch nicht in der Lage zu verstehen, dass dem Baby diese Erkenntnis fehlt. Solche Streitphasen sind für Außenstehende sehr belastend, da es ein nicht zu enden scheinenden Kreislauf ist.
Ein weiteres Streitthema zeigt sich im Territorialverhalten der Kinder. Es macht keinen Unterschied, ob sich die Kinder ein Zimmer teilen oder eigene Räume nutzen. Sie möchten ihren eigenen Rückzugsort beanspruchen, über den sie allein entscheiden können: “Du darfst nicht mehr in mein Zimmer kommen!”, “Setz dich nicht auf mein Bett!” Ein solcher Geschwisterstreit ist vor allem bei älteren Kindern ganz normal.
Gefühlte Ungerechtigkeit
Neid unter Geschwistern basiert oft auf einem Gefühl von ungerechter Behandlung: “Er hat mehr Pudding als ich!”, “Warum darf sie ihre Freundin besuchen und ich muss zu Hause bleiben?” Ein klassischer Auslöser sind unterschiedliche Privilegien, die durch den Altersunterschied zustande kommen. Wenn die 13-jährige Schwester bereits ein Telefon nutzen darf und der 9-jährige Bruder noch warten muss, kann das für Unmut sorgen.
Aber nicht immer gibt es nachvollziehbare Auslöser für das Ungerechtigkeitsgefühl. Eine fehlerhafte Kommunikation oder eine falsch interpretierte Beobachtung können ebenfalls für ordentlichen Ärger sorgen.
Daher ist es wichtig, dass Kinder von Anfang an lernen, auf Augenhöhe miteinander zu kommunizieren. So kann ein gutes Verhalten bei einem Familienstreit mit der Zeit erlernt werden. Dies wird die Streitigkeiten nicht eliminieren, aber den Kindern die notwendigen Fähigkeiten zur Konfliktbewältigung an die Hand geben.
Eingreifen bei Geschwisterstreit
Für Eltern ist es nicht einfach zu ertragen, wenn die Kinder sich ständig streiten. Experten gehen davon aus, dass es im Schnitt alle 20 Minuten zu einem Streit unter Geschwistern kommt. Die Streits sind dabei ein wichtiger Teil auf dem Weg zur Sozialkompetenz. Hier werden Konfliktsituationen durchlebt. Diese Erfahrungen sind im späteren Leben essenziell für den Umgang mit anderen.
Dies bedeutet jedoch nicht, dass Eltern zu keinem Zeitpunkt einschreiten sollten. Wenn Geschwister streiten, sollte auch bei heftigen Auseinandersetzungen die Grenze zur körperlichen Gewalt niemals überschritten werden. Es ist nicht akzeptabel, es als normal hinzunehmen, wenn es zu Gewalt unter Geschwistern kommt.
Als Elternteil gilt es daher immer, Gewalt umgehend zu unterbinden. Anschließend sollte man sich auf die Suche nach dem Auslöser machen. Ein Gespräch über die Gefühle und das Handeln des Gegenübers kann helfen. Sind die Gemüter zu stark aufgeheizt, kann man die Kinder trennen und zu einem späteren Zeitpunkt separat mit ihnen das Gespräch suchen. Oft werden körperliche Aggressionen durch sehr spezielle Gefühle ausgelöst. So kann es sein, dass ein Kind unter starkem Schulstress steht und diesen an den Geschwistern auslässt. Eine offene Kommunikation ist immer der Schlüssel.
Tipp: In vielen Fällen ist es kaum möglich, im Streit eine gute Lösung zu finden. Alle Beteiligten sollten sich daher zuerst beruhigen. Es ist möglich, sich kurze Zeit später zusammenzusetzen und eine faire Lösung zu finden.
Es gibt ein paar Auffälligkeiten, bei denen es sich lohnt genau hinzuschauen und zuzuhören:
- Streit wird immer durch das gleiche Kind ausgelöst.
- Der Streit ist sehr lang.
- Ein Kind ist extrem emotional – weinen, schreien.
- Häufige Streits in der Öffentlichkeit – Aufmerksamkeit auf sich ziehen.
In einem Gespräch ist es zentral, dass die Kinder die Lösung zum Problem, soweit es geht, selber erarbeiten. Vorgefertigte Lösungen helfen nicht dabei, den Lösungsweg zu verstehen und ihn später selbst anwenden zu können.
Gleichbehandlung ist nicht immer die Lösung
Werden Kinder in allen Situationen gleich behandelt, wird es früher oder später dazu kommen, dass die Behandlung für einen oder gar alle Beteiligten unangemessen ist. Es ist wichtig, die individuellen Umstände der einzelnen Kinder zu berücksichtigen. Hier spielen das Alter oder die persönliche Reife eine Rolle. Wird ein 9-jähriges Kind genauso behandelt wie ein 5-jähriges Kind, fühlen sich beide ungerecht behandelt oder sind mit der Situation überfordert.
Es ist besser, von Anfang an klar zu machen, dass jeder seinen Umständen entsprechend fair behandelt wird.
Streitereien aufarbeiten und vorbeugen
Es ist nicht möglich und auch nicht hilfreich, Streitigkeiten komplett aus dem Leben der Geschwister eliminieren zu wollen. Die Streits sind ein wichtiger Teil der persönlichen Entwicklung. Dennoch ist es möglich, frühzeitig Techniken zu erlernen, um mit Streitigkeiten besser umzugehen.
Ein bewusster Umgang mit Streit ist im frühen Kindesalter nur schwer zu erlernen. Ab etwa 8 Jahren können die Kleinen gezielte Methoden anwenden, um im Streit Lösungen zu finden. Eine mögliche Methode ist das Streit-Thermometer. Es visualisiert, wie sich ein Streit aufbaut, also immer hitziger wird. Eine einfache Aussage kann dazu führen, dass es zu harten und unfreundlichen Worten kommt – es wird einfach nur aufeinander reagiert, ohne ein Gespräch zu erlauben. Jeder Satz lässt die Temperatur des Thermometers steigen. Wird auf dem Thermometer aufgezeigt, wo sich die Temperatur gerade befindet, kann man an Wegen arbeiten, diese abzukühlen. Kompromissfindungen oder Fragestellungen, die das Problem benennen, wirken hier Wunder.
Wann ist Streit unter Geschwistern problematisch?
Die Geschwister streiten den ganzen Tag und die Eltern stehen hilflos daneben? Dieses Szenario ist keine Seltenheit. Allerdings bedeuten die Streits nicht auch, dass hier ein Problem vorliegt. Neben der bereits angesprochenen körperlichen Gewalt ist auch mentale Gewalt ein Punkt, der von Eltern beobachtet werden sollte. Beginnt ein Kind damit, das Gegenüber zu beleidigen und gar zu mobben, ist es an der Zeit, einzuschreiten.
Achtung: Das Ziel darf niemals sein, das “Problemkind” zu finden, zu bestrafen und die Schuld zuzuweisen! Es geht darum, den Grund für das Verhalten zu finden und zu eliminieren. Wer mobbt hat oft selber ein Problem. Nur so wird sich das Streitverhalten nachhaltig ändern.
Es ist hilfreich, auch auf die Sprache außerhalb von Streits zu achten. “Ich hasse meinen Bruder!”, ein solcher Satz kann im Streit fallen. Wird diese Art der Sprache auch im klassischen Alltag auffällig, sollte man ebenfalls hinterfragen, was der Auslöser sein könnte.
Übrigens ist auch das komplette Ausbleiben von Streitigkeiten ein Warnzeichen. Gehen sich Kinder gezielt aus dem Weg – was oft vermehrt von einem Kind ausgeht – sind ebenfalls Störfaktoren vorhanden, die erkundet werden sollten.
Geschwisterrivalität bis ins Erwachsenenalter
In der Regel ist ein Geschwisterkind die erste Person, mit der man eine echte Beziehung auf Augenhöhe führt. Man lernt sich und seine Emotionen mit dieser Person kennen. Kommt es in diesem Zusammenhang zu Konflikten, die über lange Zeit nicht gelöst werden, kann der Streit unter Kindern bis ins Erwachsenenalter anhalten. Das grundlegende Problem stammt so quasi noch aus den Kindheitsjahren, aber nun wird der Streit mit den Emotionen von erwachsenen Personen geführt.
Erwachsene Geschwister verstehen sich oft nicht, weil sie an alten Denkmustern festhalten: „Du warst immer der Liebling!“, „Ich musste mich immer um alles kümmern!“ Möchte man sich dann von Geschwistern lösen, bleiben diese emotionalen Lasten bestehen. Spätestens an dem Punkt, an dem man etwa durch den Tod der Eltern wieder zusammengeführt wird, kommt es dann zu einer Eskalation. Ist der Kontakt zu Geschwistern abgebrochen, ist es schwer sich erneut auf Augenhöhe zusammenzufinden.
Geschwisterrivalität im Erwachsenenalter basiert daher immer auf den Erfahrungen der Kindheit. Es ist möglich, diese gemeinsam aber auch für sich selbst aufzuarbeiten. Ein guter Ansatzpunkt ist es, zu verstehen, wie man sich selbst als Kind in der Familie gesehen hat und wie das auch heute noch die Dynamik bestimmt.
Helfen kann dabei die Methode der Familienaufstellung aus der Familientherapie. Dabei werden aus teilnehmenden Personen eines solchen Seminars Stellvertreter für relevante Familienmitglieder gebildet. Sie werden entsprechend der Beziehung in einem Raum positioniert. Dabei können Verstrickungen und verschiedene Dynamiken im Familienkreis erkannt werden.
Fazit
Es ist nicht denkbar, die Kinder ohne Geschwisterstreit zu erziehen. Die Streitigkeiten sind sogar hilfreich, um sich selbst kennenzulernen und wichtige Sozialkompetenzen zu verstehen. Ein bewusster Umgang mit Geschwisterstreits ist vor allem dann wichtig, wenn es Auffälligkeiten wie gewaltsames Verhalten gibt. Eltern sollten dann helfend zur Seite stehen und herausfinden, welche Auslöser für das hohe Konfliktpotenzial sorgen.
Weiterführende Literatur: Quellen und interessante Links
[1] https://www.fritzundfraenzi.ch/erziehung/elternbildung/geschwisterstreit-wird-oft-banalisiert?page=all [2] https://www.kita.de/wissen/geschwisterrivalitaet/ [3] https://www.geo.de/magazine/geo-kompakt/6774-rtkl-kindheit-geschwister-von-der-liebe-unter-rivalen